Eurythmie

Was ist Eurythmie? Wozu dient sie? Wofür soll sie gut sein. Warum hat man an einer Steiner Schule dieses Fach 12 Jahre lang meistens 2 Stunden die Woche?

Das ist doch längst überholt. Das war vor hundert Jahren gut. Ist heute nicht mehr zeitgemäss. Langweilig. Mühsam. Heilig. Alles andere als trendy.

Die Eurythmie wirft Fragen auf. Ich glaube, solange eine Sache Fragen aufwirft und Kontroversen schafft, ist sie lebendig und hat eine Daseinsberechtigung.

Was ist Eurythmie? Um es vorwegzunehmen, ich weiss es auch nicht. Ich weiss nicht, was Eurythmie ist.  Wie kann ich denn ein Fach unterrichten und sogar davon überzeugt sein, dass es wichtig, wertvoll und absolut zeitgemäss, super trendy ist und sich am Puls der Zeit nährt, ohne zu wissen, was es ist?

Ich hatte während meinem Studium ein  markantes  Erlebnisse mit oder dank der Eurythmie. Es war während einem Praktikum im 3. Studienjahr in den Engadiener Bergen. Eine kleine Steinerschule hatte sich mit einer kleinen Staatsschule zusammen zum Ziel gesetzt das Sommerspiel von Frau Lobeck zur Aufführung zu bringen. Ich wurde engagiert, um dieses zu erarbeiten. So stand ich dann an einem regnerischen, grau verhangenen Montagnachmittag in einer sehr gewöhnlichen Turnhalle in den Bergen vor 60 Kindern und einer Handvoll Lehrern und sollte also mit diesen Menschen im Alter von 5 bis 55 Jahren Eurythmie machen. Erwartungsvoll schauten mich 120 Augen an. Ich begann, indem ich meine Füsse geschlossen nebeneinander stellte und dann meine Arme ausbreitete, um ein grosses A zu bilden. Die Menschen taten es mir gleich. Es wurde mucksmäuschenstill im Raum. Und nicht nur das: Der Raum um uns herum veränderte sich. Er verwandelte sich. Und dann wusste ich einen Moment lang nicht mehr weiter, weil ich überwältigt war von dem, was sich ereignet hatte im Raum. Einen unendlich langen Augenblick lang geschah nichts und gleichzeitig überwältigend viel. Es trieb mir Tränen in die Augen, die ich verstohlen wegwischte. Dann machte ich weiter.

Was hatte sich ereignet in diesem kurzen Moment, 60 Menschen ihre Arme zu einem A ausbreiteten? Was war es, das mir die Tränen in die Augen trieb und mich unvergesslich tief berührt hat?

Es war etwas Ungewohntes, Unerwartetes, Unbekanntes, etwas sehr, sehr Schönes und Kostbares. Das spürte ich sofort. Etwas, das nichts anderes voraussetzte als die Bereitschaft es zu tun. Es war für die kleinen 5-jährigen Kinder möglich und auch für die Alten. Man brauchte dazu keine Vorkenntnisse, kein spezielles Zubehör, keine Ausrüstung und keine besondere Begabung. Alle konnten es tun mit ihrem eigenen Instrument, ihrem Körper, so wie er war. Egal ob gross oder klein, dick oder dünn, Junge oder Mädchen, alle können es tun. Jederzeit. Man braucht nichts anderes dazu als sich selbst. Jeder Mensch ist von seiner Grundausstattung her für Eurythmie geeignet, da in den eurythmischen Bewegungen die ätherischen Bewegungen, die sich fortwährend unsichtbar in uns vollziehen, zur Sichtbarkeit gebracht werden. So ist die Eurythmie  wie keine andere Kunstform zutiefst menschlich, man könnte sagen, dem Menschen in seiner Entwicklung und seinem Dasein abgeschaut. Das ist phänomenal. Das ist grossartig. Das ist wunderbar und einzigartig.

Diese Episode in den Bergen illustriert exemplarisch was Eurythmie sein und bewirken kann. Eurythmie kann den Raum um mich herum verändern. Eurythmie kann einen Raum zwischen mir und einem anderen Menschen sichtbar machen. Eurythmie kann mich mit anderen Menschen verbinden. Eurythmie kann mich als Individuum in eine Gemeinschaft einbinden. Eurythmie kann mein Alleinsein aufheben.

„Die Eurythmie trägt unendliche Entwicklungsmöglichkeiten in sich. Sie entfesselt die tieferen Seiten des schwerelosen Menschen, wo der Mensch frei wird und sich darstellt als göttlich-geistiges Wesen. Dadurch darf man hoffen, dass die Eurythmie immer weiter und weiter sich entwickelt.“ (R. Steiner, 8. Juli 1923, „Eurythmie, die Offenbarung der sprechenden Seele“ S. 370)

Von Beate Lanz